Grenzen
erfahren, gestalten, verändern (von Barbara Pieper)
Über Grenzen kann man sprechen; doch ohne die Erfahrung von Grenzen macht die Diskussion wenig Sinn. Feldenkrais-Lehrer/innen arbeiten gezielt mit subtilen Grenzsetzungen (dazu auch Fußnote 2 auf S. 37). An Stelle eines Editorials laden wir Sie deshalb zu einer kleinen eigenen Erfahrung ein. Barbara Pieper hat eine exemplarische Feldenkrais-Lektion für dieses Heft zusammengestellt.
Die Redaktion wünscht Ihnen beim Experimentieren und Lesen viel Vergnügen.
1. Setzen Sie sich auf einen Stuhl mit möglichst waagerechter Sitzfläche.
Halten Sie einen Moment inne und beobachten Sie den Kontakt Ihres Beckens und Rückens mit dem Stuhl. Wie flächig sitzen Sie auf dem Stuhl?
Wenden Sie nun Ihren Kopf nach links und nach rechts.
Bewegen Sie ihren Kopf hierbei nicht weiter zu den Seiten, als die Bewegung Ihnen leicht und fließend erscheint. Auf diese Weise können Sie kleine feine Unterschiede beim Umdrehen eher aufzuspüren. Sie werden dann auch die Grenze deutlicher wahrnehmen, bis zu der Sie Ihren Kopf mühelos zur Seite bewegen können. Merken Sie sich diesen Platz im Raum.
2. Setzen Sie sich jetzt auf Ihrem Stuhl möglich weit nach vorne auf die Stuhlkante. Legen Sie Ihre rechte Handfläche an die Rippen unterhalb Ihrer linken Achselhöhle. Umfassen Sie mit Ihrer linken Hand Ihren rechten Ellbogen und führen Sie Ihren rechten Ellbogen ein wenig nach links und zurück. Lassen Sie Kopf und Augen sich ebenfalls und zusammen mit Armen und Brustkorb nach links bewegen und wieder zurück.
Langsam, sodass Sie dabei die Bewegungsrichtung nach links verfolgen können. Ihre rechte Handfläche spürt dabei Ihre Rippen. Bewegen sich diese mit?
Ruhen Sie sich einen Moment aus.
3. Legen Sie wieder Ihre rechte Handfläche an die Rippen unterhalb Ihrer linken Achselhöhle und umfassen Sie mit Ihrer linken Hand Ihren rechten Ellbogen.
Jetzt wechseln Sie die Perspektive von vorne nach hinten: stellen Sie sich eine Aufschrift auf Ihrer Kleidung in Höhe Ihrer Schulterblätter vor. Diese Aufschrift möchten Sie jemand zeigen, der rechts hinter Ihnen sitzt.
Wie müssen Sie sich umwenden, damit Ihre Schrift gelesen werden kann von jemand, der in der Stuhlreihe hinter Ihnen, aber einen Stuhl weiter rechts sitzt?
Wenden Sie sich auf diese Weise einige Mal um und wieder zurück.
Beobachten Sie dabei Ihre veränderte Orientierung im Raum. Sie beginnen die Bewegung jetzt vom Rücken her.
Machen Sie wieder eine Pause und setzen sich für eine kleine Weile wieder ganz auf die Sitzfläche.
Nutzen Sie den Stuhl flächiger aus beim Sitzen?
4. Rutschen Sie jetzt wieder nach vorne auf die Stuhlkante. Lassen Sie ihre Hände lässig auf Ihren Oberschenkeln liegen. Bewegen Sie jetzt Ihr rechtes Knie ein wenig in Richtung nach vorne und wieder zurück – es kann sich sogar ein wenig nach vorne und nach außen bewegen. Einige Male.
Beobachten Sie, wie Ihr rechter Oberschenkel und Ihr rechtes Hüftgelenk der Bewegung des Knies nachfolgen; gut möglich, dass sich tendenziell sogar Ihre rechte Beckenseite beteiligt und ebenfalls ein wenig nach vorne kommt. Könnte es sein, dass sich ihr linkes Knie, die linke Beckenhälfte und Ihr linker Sitzhöcker in der Gegenrichtung nach hinten bewegen?
Wieder: machen Sie eine kurze Pause.
Die Pause ermöglicht Ihnen, feine und signifikante, d.h. für Sie weiter verwendbare Unterschiede wahrzunehmen.
5. Legen Sie nun wieder wie zu Beginn Ihre rechte Handfläche an Ihre Rippen unterhalb Ihrer linken Achselhöhle. Umfassen Sie mit Ihrer linken Hand Ihren rechten Ellbogen und führen Sie Ihren rechten Ellbogen ein wenig nach links und zurück. Wieder einige Male, langsam!
Die Bewegung wird Ihnen inzwischen vertrauter vorkommen als zu Beginn. Welche Bereiche Ihres Körpers beteiligen sich jetzt?
Nun setzen Sie sich wieder ganz zurück auf den Stuhl. Wenden Sie Ihren Kopf nach links und nach rechts, soweit die Bewegung Ihnen jetzt leicht und fließend erscheint.
Erinnern Sie den Platz im Raum, bis zu dem Sie eingangs Ihren Kopf nach links und rechts haben wenden können. Vergleichen Sie den Bewegungsumfang: wie weit wenden Sie jetzt Ihren Kopf? Hat sich die Grenze der Bewegung verschoben? Und wohin?
Wie fließend empfinden Sie die Kopfbewegung jetzt? Bitte nehmen Sie auch die Bewegungsqualität wahr. Zum Bewegungsspielraum gehört auch die dabei empfundene Qualität dessen, was Sie tun und wie Sie Ihre Bewegungsabsicht ausführen.
6. Stehen Sie auf und gehen Sie im Raum herum, während Sie sich einmal nach links und einmal nach rechts umwenden.
Wo machen sich die Unterschiede zwischen rechts und links sonst noch im Körper bemerkbar? Schreiten Sie mit einer Seite mehr aus? Welche neuen Ausblicke bieten sich Ihnen jetzt?
7. Wenn Sie das Bedürfnis haben, die Grenzen der Bewegung auch zur anderen Seite zu erweitern, dann wiederholen Sie diese kurze Bewegungssequenz nun nach rechts. Sie haben mit der anderen Seite bereits Erfahrungen gesammelt. Diese dienen Ihnen jetzt als Maßstab für Ihre Erkundungen nach rechts.
Nehmen Sie sich Zeit zu vergleichen. Halten Sie ein wenig inne zwischen den Bewegungen. Die eine Seite kann von der anderen lernen, wenn Sie die Unterschiede beachten und herausfinden, worin die Leichtigkeit und Mühelosigkeit der „besseren“ Seite besteht. Beobachten und nutzen Sie Ihr verbessertes Unterscheidungsvermögen, um Ihre Vorstellung der Bewegungen nach rechts plastischer und präziser werden zu lassen.
Stehen Sie auf, gehen Sie herum, wenden Sie sich um beim Gehen.
Und noch einmal: Welche Ausblicke bieten sich Ihnen jetzt?
Wenden Sie diese neue entdeckte Bewegungsfreiheit gleich im Alltag an.
Gut möglich, dass sich auch andere Grenzen verändern lassen.