Gehen

Liebe Leserin, lieber Leser,

Dieses Heft ist dem „Gehen“, der innigsten Fortbewegung des Menschen, gewidmet. Als der Mensch sich an jenem Vormittag in grauer Vorzeit erhob, tat er das nicht um auf zwei Beinen zu stehen – nein, er ging. Und damit war sein Schicksal als temporal dezentriertes Wesen vorgezeichnet: das eine Bein im Vergangenen, das andere im Zukünftigen. Und dazwischen, flüchtig schwebend, das Gegenwärtige. Gehend, mit freigewordenen Händen, haben wir den Gang der Dinge auf unserer Erde entscheidend beeinflusst. Gehen blieb nur für kurze Zeit reine Fortbewegung. Bald wurde es Kommunikation (der urbane Abendspaziergang über den Corso einer italienischen Stadt), Statussymbol (der Pariser Flaneur des frühen 19. Jahrhunderts, der mit einer Schildkröte an der Leine seinen Müßiggang demonstrierte) und Symbol für gesellschaftliche Anpassung (die Walker, die durch ihr Gehen das Gesundheitssystem entlasten). Und da diese Fortbewegung so zentral für den menschlichen Lebensstil wurde, ist es nicht erstaunlich, dass unsere Sprache angefüllt ist mit Begriffen und Wörtern, die gehen, geht, Gang und ähnliches in sich tragen. So sagen wir zum Beispiel. „Das geht gut“, wenn etwas leicht und einfach zu bewerkstelligen ist. Wir sagen es aber auch, wenn sich etwas gut verkaufen lässt. Wir sagen sogar „Es geht gut“, wobei wohl niemand erklären könnte, wer oder was dieses „es“ sein soll. „Ach, geh!“ ist ein Ausdruck des Erstaunens, den wir aber auch benutzen, wenn wir in Ruhe gelassen werden möchten. Es geht der Teig, es geht aber auch das Gerücht. Etwas geht gegen meine Überzeugung. Man kann einen guten oder auch schlechten Umgang haben. „Gehen lassen“ steht sowohl für in Ruhe lassen als auch dafür, sich nicht zu beherrschen. Was vielleicht etwas miteinander zu tun hat? Wenn etwas „auf dich geht“ dann bist du gemeint. Und wenn „es mit jemandem zu Ende geht“ dann wird er bald sterben.

Auch in der Arbeit der Feldenkrais-LehrerInnen spielt das Gehen eine große Rolle. Oft verwenden es wir als Referenzbewegung. Wir lassen unser Klientel vor und nach einer Lektion gehen. Zum einen um ihre Bewegungswahrnehmung zu schärfen, zum anderen um durch unsere Wahrnehmung des „Gang Musters“ des Klienten Hinweise auf mögliche Arbeitsstrategien zu erlangen. Zwei Feldenkrais Lehrer der ersten Stunde, Yochanan Rywerant und Eli Wadler, haben uns dazu kleine Beiträge geliefert.

Ulla Schläfke und Roger Russel beschreiben die Entwicklung des aufrechten Ganges des Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei legen sie besonderen Nachdruck auf das Bewegungslernen der Kleinkinder, das als eine der größten Lernleistungen des Menschen verstanden werden muss.

Praktische Probleme und Erfolge der Feldenkraisarbeit werden in einem Interview angesprochen, das Sabine Pankofer mit der Feldenkrais Lehrerin Charlotte Fichtl und ihrer Klientin Lydia Rastetter geführt hat. Auch aus der Praxis kommt auch der Beitrag von Roland Gillmayr über seine Erfahrungen als Feldenkraislehrer und Bergführer.

Dass der Gang eines Menschen einen wesentlichen Teil seiner Identität ausmacht ist uns allen klar. Wie stark allerdings unsere visuellen Fähigkeiten des ganzheitlichen Erkennens von Bewegungsmustern ausgeprägt sind, überrascht dann doch. Dies wird in dem Beitrag des Bewegungsforschers Nikolaus Troje überzeugend dargestellt. Eine wunderschöne Ergänzung dazu ist der Bericht von Richard Cave über die Einstudierung eines Theaterstückes von Peter Handke, das das Gehen zum zentralen Vermittlungsakt macht.

Auch in der Literatur und Geistesgeschichte des Abendlandes spielt das Gehen eine große Rolle. Wir hätten Bände mit entsprechenden Texten füllen können. Beschränkt haben wir uns auf zwei Texte von Robert Walser und Hugo Kükelhaus, die durch einen Essay des Kulturwissenschaftlers Ulrich Giersch abgerundet werden.

Die Illustrationen können dieses Mal eine besondere Geschichte erzählen. Für die bisherigen Ausgaben der FeldenkraisZeit haben wir bereits bestehendes Bildmaterial verwendet. Angefangen hat es in Heft eins mit einem Foto von Henri Cartier-Bresson, das er von Alberto Giacometti in seinem Atelier gemacht hat, gefolgt von einem Selbstporträt des Malers René Magritte in Heft zwei. Die Blattgrafiken für Heft drei hat der Designer und Sachpoet Ulrichadolf Namislow beigetragen und die Bebilderung für das letzte Heft entnahmen wir der Diplomarbeit der Kommunikationsdesignerin Tanja Kirschner. Für die vorliegende Ausgabe der FeldenkraisZeit haben wir nun erstmals eine Auftragsarbeit vergeben. Sie ging an StudentInnen der Fachhochschule Mainz, die während des Wintersemsters 2003/04 in ihrem Hauptstudium Kommunikationsdesign das Fach Experimentelle Illustrationstechniken belegt hatten. Sylvia Weise, die von Redaktionseite aus dieses Projekt betreut hat, gab den StudentInnen die Möglichkeit, über praktische Erfahrungen mit der Feldenkrais-Methode die eigenen Bewegungs- und Ganggewohnheiten zu erkennen und mit ihnen zu spielen. Auf der Grundlage der Illustrationsvorschläge, die danach entstanden sind, haben nun im Sommersemester Jasmin Koch und Regina Thaumiller die gesamte Gestaltung des Heftes übernommen. Wir danken den beiden Studentinnen und Professor Albrecht Rissler, der dieses Projekt begleitet hat, für ihre Experimentierfreude und die sensible Umsetzung des Themas. Die Zusammenarbeit war eine große Freude und Bereicherung.

Dieses Heft ist also die 5. Nummer der FeldenkraisZeit. Wir betrachten sie deshalb als eine Minijubiläumsausgabe. Wenn dieser Anlass schon keine Sektkorken knallen lässt, verleitet er doch zu der Frage: „Na, wie geht’s denn?“. Wie geht es der Leserschaft mit dem Journal und wie geht es der Redaktion mit der Arbeit. Ersteres ist schwer zu sagen. Die Kommunikationsdrähte zwischen der Leserschaft und der Redaktion laufen nicht gerade heiß. Nur so viel wissen wir: es kamen noch keine Klagen. Auf die zweite Frage gibt es eine klare Antwort: die Redaktion findet langsam zu einer gewissen Routine im guten Sinne, Abläufe werden einfacher, Abstimmungen fallen leichter. Was ihr etwas fehlt ist ein Dialog mit den Lesern. Welche Themen wünscht ihr euch? Sind die Beiträge zu theoretisch, zu wissenschaftlich, zu wenig an die Praxis angebunden? Sollen wir weiterhin themenbezogene Hefte anstreben oder sollen wir den Bauchladen etwas bunter gestalten? Gerne würden wir die nächsten fünf Hefte mit euch abstimmen und sind dabei offen für Anregungen und Ideen. Danke!

Die Redaktion

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Journal für somatisches Lernen