Wirbel um die Säule
Liebe Leserinnen und Leser,
Im vorliegenden Heft 11 der feldenkrais zeit gibt es viel „Wirbel um die Säule“: Die menschliche Wirbelsäule trägt nicht nur die Last von Kopf, Rumpf und Armen und erfüllt damit eine wichtige Haltefunktion, sondern ermöglicht Bewegungen des Körpers in alle Richtungen. Für den Feldenkrais-Lehrer Günther Bisges ist sie ein „zentral ordnendes Prinzip“, auf das man in der praktischen Arbeit immer wieder zurückkommt. Dabei orientiert sich die Feldenkrais-Methode weniger an der Wirbelsäule als einem eigenen „Körperteil“, sondern an ihren vielfältigen Funktionen und wechselnden Bewegungsrichtungen. Sie beschäftigt Orthopäden, Chiropraktiker, Matratzenhersteller – aber wer sonst denkt schon über seine Wirbelsäule nach, außer wenn der Rücken weh tut?
Und wo beginnt und wo endet ein Körperteil? Diese Frage des Ethnologen Utz Jeggle ist der Ausgangspunkt aller Überlegungen. Denn die Wirbelsäule insbesondere entzieht sich der unmittelbaren Betrachtung. Zunächst einmal ist nur ihr rückwärtigster Teil, die Dornfortsätze, direkt zu tasten oder im Liegen auf einem harten Boden zu spüren. Da liegt die – provokative? – Schlußfolgerung nahe: „Die Wirbelsäule ist in mir versteckt, verborgen und unzugänglich für mein Empfinden“, und deshalb eigentlich „kein Gegenstand meiner Selbstwahrnehmung“, wie Christoph Wild es formuliert. Oder etwa doch? Es gehört zu den Leistungen von Moshé Feldenkrais, abstrakte Ideen konkret zu machen, und für Daniel Clénin gehört die Wirbelsäule sogar zu den „besten Anschaulichkeiten davon“, die man „allerdings gar nicht schauen, sondern nur spüren kann“. Welche Vorstellung haben wir zum Beispiel von dem Raum, den sie im Brustkorb einnimmt – im Lendenbereich ist es fast ein Drittel des gesamten Querschnitts durch den Körper. Stellen wir uns die Wirbelsäule wirklich als unsere Mittelachse vor, auch von vorn, oder eben nur hinten, dem Rücken zugehörig, unsichtbar, unseren Blicken und damit auch dem Bewußtsein entzogen?
Wirbelnd zwischen all diesen Polen gibt es in diesem Heft die unterschiedlichsten Annäherungen: in der Bildenden Kunst etwa ist die Wirbelsäule durchaus „Ansichtssache“, wie der Mediziner und Kolumnist Erhard Taverna darlegt. Für die Architektur ist nach Prof. Dr. Wolfgang Meiseheimer das „Aufrichten des Leibes und das Aufrichten der Architektur eine der elementaren Gesten, die Leib und Architektur miteinander verbinden“. Der Mediziner Helmut Milz widmet seinen Beitrag zentralen Funktionen der Wirbelsäule – Haltung, Aufrichtung, Gehen – und unternimmt gleichzeitig einen sprach- und kulturgeschichtlichen Parcours.
Und immer wieder interessiert die Frage: Welche Rolle spielt die Wirbelsäule in Bezug auf das, was einen Menschen bewegt. Franziska Wyder beschreibt das beim Singen, John Tarr beim Posaune spielen, Patrik Widrig beim Tanzen und Susanne Braun für die Contact Improvisation. Antworten darauf ergeben sich auf unterschiedlichste Weise in der konkreten Arbeit – André Bernard zum Beispiel schildert, wie in der Ideokinese (Körper-)Haltungen über Vorstellungsbilder verändert werden können, Elfriede Hengstenberg greift in ihrer Arbeit mit Kindern unmittelbar deren Einfälle auf und entwickelt daraus ihre „Übungen“, und der Feldenkrais-Lehrer Jeff Haller beschreibt eine Feldenkrais-Stunde mit einem Tänzer, der mit der medizinischen Diagnose „lumbale Instabilität und leichte Skoliose“ zu ihm kommt.
An der Wirbelsäule hängt viel dran, aber es ist nicht immer leicht zu entdecken. Wir in der Redaktion haben deshalb in viele Richtungen Ausschau gehalten, zeitweise mit dem Thema gerungen und so viele Anregungen bekommen, kontroverse Diskussionen geführt und neue Perspektiven gewonnen. Das wünschen wir auch allen unseren Lesern – und viel Vergnügen beim „Wirbeln um die Säule“.
Die Redaktion